Gastkommentar: Über den Rechtsruck des Liberalismus

Fabian Lehr ist linker Blogger aus Wien, seine Beiträge findet man auf Facebook und Youtube. Wir freuen uns, Fabian als neuen Gastkommentator in der Left Comments-Reihe begrüßen zu dürfen!
 
Der Krieg in der Ukraine hat das politische Koordinatensystem in ganz Europa durcheinandergeworfen. Zu den markantesten Veränderungen zählt, dass Grüne und Liberale plötzlich ihr Herz für den Militarismus entdecken und den traditionellen Konservatismus dabei von rechts überholen. Aus der berechtigten Empörung über den russischen Angriffskrieg und die dahinterstehende großrussisch-nationalistische Ideologie wird eine bedingungslose Identifikation mit dem Imperialismus des NATO-Blocks und der Ideologie des ukrainischen Nationalismus abgeleitet. Wer gestern noch wusste, dass die Ukraine im seit 2014 andauernden Konflikt ein Spielball der imperialistischen Konkurrenz zwischen Russland und dem Westen ist, sieht nun im Taumel des Krieges Brüssel und Washington als selbstlose, edle Verteidiger ukrainischer Freiheit. Wer gestern noch richtig erkannte, dass die NATO ein von moralischen Skrupeln freies imperialistisches Kriegsbündnis ist (In dem, wenn es geopolitisch passt, auch eine faschistoide Diktatur wie Erdogans Regime herzlich willkommen ist), spricht heute die Phrasen von der NATO als einem Defensivbündnis zum Schutz von Demokratie und Menschenrechten in der Welt nach. Wer gestern noch erkannte, dass seine verfassungsmäßige Neutralität Österreich die meiste Sicherheit bietet und nicht bewaffnetes Mitmischen in imperialistischen Konflikten, redet heute davon, man müsse „die Zeichen der Zeit erkennen“, die überholte Neutralität entsorgen und Österreich in die NATO führen. Wer gestern noch von der Notwendigkeit diplomatischer Konfliktlösung sprach, fordert heute in immer schrilleren Tönen, immer mehr und immer schwerere Waffen in diesen Krieg zu pumpen und – warum nicht? – vielleicht auch gleich die Gelegenheit zu nutzen, dabei die Krim militärisch zurückzuerobern. Wer gestern noch mahnte, dem Wiederaufstieg des Rechtsradikalismus in Europa den Weg zu versperren, prangert jede Thematisierung der Legalisierung, Uniformierung, Besoldung und Bewaffnung tausender organisierter Neonazis durch den ukrainischen Staat nun als perfide Kremlpropaganda an. Wer gestern noch erkannte, dass Kriege zwischen bürgerlichen Staaten Konkurrenzkämpfe der Bourgeoisie um Märkte, Ressourcen und geopolitische Machtpositionen sind, erklärt die Invasion jetzt mit der ewigen Barbarei des russischen Nationalcharakters. Wer gestern noch propagierte, die soziale Frage müsse im Fokus der Politik stehen, meint nun im Chor mit den reaktionärsten Kreisen der österreichischen Politik, die explodierende Inflation müsse man eben als Preis der Verteidigung der Freiheit hinnehmen und die Hochrüstung des Bundesheeres sei wohl wichtiger als Maßnahmen zur Stabilisierung der Kaufkraft der arbeitenden und armen Bevölkerung.
Die Menschen, die all das vertreten, sahen sich, von NEOS und Grünen bis zum Falter-Abonnenten, bisher als progressive Avantgarde der Gesellschaft und tun es oft genug auch jetzt noch, während sie klassische Positionen der politischen Rechten vertreten (Man erinnere sich daran, dass es gerade die FPÖ war, die sich lange Zeit weitgehend isoliert durch die Forderung nach Entsorgung der Neutralität und NATO-Beitritt Österreichs profilierte). Wenn man ihnen folgt, habe der Krieg in der Ukraine alles verändert und verlange zwingend „neue Ideen“ (Die überwiegend eben einfach die Ideen der Rechten von gestern sind). Aber was ist an diesem Krieg eigentlich so neu, dass Linke und Linksliberale aufgrund dieser Erfahrung ihr Weltbild umstürzen müssten? Die Erkenntnis, dass imperialistische Staaten sich um das Völkerrecht nicht scheren, wenn es ihren Machtinteressen im Weg steht? Das hätte man leicht schon aus den völkerrechtswidrigen NATO-Kriegen 1999 gegen Serbien, 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak oder 2011 in Libyen lernen können – vorausgesetzt natürlich, völkerrechtswidrige Kriege würden einen auch dann empören, wenn das eigene imperialistische Lager sie führt. Dass imperialistische Invasionsarmeen schreckliche Menschenrechtsverletzungen und Massaker begehen? Das hätte man lange vor Butscha und Irpin aus den Massakern in Korea und Vietnam, aus Guantanmo, Abu Ghreib und den tausenden willkürlichen Tötungen von ZivilistInnen in Afghanistan und im Irak durch NATO-Truppen lernen können – vorausgesetzt natürlich, Massaker, die von Invasionstruppen des eigenen imperialistischen Lagers verübt werden, würden einen interessieren. Eine Erkenntnis dagegen ziehen die Heerscharen liberaler BellizistInnen freilich nicht aus den Ereignissen: Dass kapitalistische Konkurrenz und imperialistische Politik zwangsläufig Krieg, Verbrechen und Elend bedeuten unabhängig davon, ob eine imperialistische Macht Russland heißt oder USA oder Deutschland oder Frankreich oder Großbritannien. Dass regelmäßige Abfolgen von Krieg und Hungersnot und Verelendung Resultat des kapitalistischen Systems und der imperialistischen Ordnung der Welt und nicht des spezifischen Nationalcharakters einer bestimmten imperialistischen Macht oder gar der Charakterzüge ihres Präsidenten – und dass es folglich eine sehr schlechte Idee ist, aus Empörung über die Verbrechen des rivalisierenden imperialistischen Blocks für Hochrüstung und bedingungslose politische Unterstützung des eigenen imperialistischen Blocks einzutreten. Wer eine Welt ohne Krieg und Elend will, der muss auch und gerade der herrschenden Klasse und der politischen Reaktion bei sich selbst, in Österreich und der EU, den Kampf ansagen statt sich in eine harmonische nationale bzw. europäische Gemeinschaft des Burgfriedens in Abwehr des Schreckbildes des äußeren Feindes einzureihen.